Schwarzfahrer im roten Bereich

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Auch an diesem Vorabend liess die Sonne die Temperaturen auf über 35° Celsius ansteigen. Doch im Einkaufszentrum gaben die Klimaanlagen alles, um eine mehr oder weniger angenehme Atmosphäre zu schaffen. So genoss ich die Wartezeit an der Kasse, bis mir der Kassenmitarbeiter den Betrag nannte, den er für meine Einkäufe bekommen würde. Ich zahlte, packte alles in die Mehrwegtasche ein … und brachte sie kaum noch vom Fleck. Gewiss, ich bin nicht der Kräftigste. Aber diese Tasche musste zehn oder mehr Kilogramm wiegen.

Wer fährt, der zahlt – oder?

Mit dieser Last auf dem Buckel nach Hause laufen? «Bitte nicht, nicht heute!», meldete sich eine Stimme in mir. Eine andere widersprach: «Komm schon, die 800 Meter wirst du wohl schaffen.» – «Es sind sicher mehr als 800 Meter … aber nimm doch den Bus. Dann sind es nur zwei Stationen und du bist in wenigen Minuten zu Hause», schob die erste Stimme gleich mehrere Argumente nach, die mich überzeugten. Aber sollte ich wegen zwei Stationen wirklich ein Billett für 2.30 CHF lösen? Der Preis schien mir so unverhältnismässig, dass ich den Bus bestieg, mich auf den nächstbesten Platz setzte. Eine Fahrkarte löste ich nicht, nicht wegen zwei Stationen.

Bange Momente im Bus

Doch da meldete sich mein Gewissen: «Du begehst gerade eine Straftat und riskierst eine Busse von 100 CHF. Auch auf einer Strecke von nur zwei Stationen können Kontrollen erfolgen.» In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich eine ziemliche Spannung in mir aufgebaut hatte. Der Bus bremste, die erste Haltestelle. Mein Blick klopfte alle Türen ab. Hoffentlich würden keine Kontrolleure einsteigen. In der vordersten Türe erschien ein sauber angezogener Mann. Er trug ein blaues Hemd – nicht irgendein Blau, sondern das Blau, das Kontrolleure tragen. Er zückte sein Handy aus der Tasche, wie es Kontrolleure immer tun. Die Türen schlossen sich, der Bus nahm Fahrt auf. Ein Entkommen war jetzt ausgeschlossen. Die zweite Station, an der ich aussteigen und rasch nach Hause gelangen konnte, lag gefühlsmässig meilenweit entfernt.

«En chline Bueb het os Pfarers Gaarte Epfel gstole. De Pfarer het em grüeft: Hansli, chomm, i mos der no näbes säge! Aber de Hansli het bim Verspringe gad gmeent: Nenei Herr Pfarer, dere chline Buebe bruchid no nüd alls z wösse!»

Appenzellerwitz aus: Koller, Walter (1971). 300 Appenzellerwitze. Abgelauscht und aufgeschrieben. Rorschach: Nebelspalter-Verlag, S. 31.

Entwarnung, Erleichterung …

Dann steckte der Mann im blauen Hemd sein Handy in die Tasche zurück, setzte seine Sonnenbrille auf und wandte sich ab. Glück gehabt! Es war einfach einer der vielen Berufstätigen, die sich auf dem Heimweg befanden. Das Blau seines Hemdes war aus purem Zufall sehr nahe am Blau, in das der Verkehrsverband seine Mitarbeitenden kleidet. Wiederum bremste der Bus. Die Türen öffneten sich. Ich stieg aus. Die Einkaufstasche wuchtete ich über die Schulter und tat mein Bestes, so rasch wie möglich in meine Wohnung zu gelangen. Dort kam ich ein paar Minuten später an. Mein Stresslevel hatte sich inzwischen wieder gesenkt. Ruhe kehrte ein. Jetzt noch ein paar Minuten relaxen, dann duschen und das Nachtessen zubereiten – so würde der Tag doch noch versöhnlich enden.

…doch wirklich etwas gewonnen?

«Und die 2.30 CHF hast du erst noch gespart!», meldete sich die eine innere Stimme erneut und brachte mich ins Nachdenken: «Na schön, es mag sein, dass ich heute 2.30 CHF gespart habe. Doch der Preis für diesen Sparbetrag war hoch: Stress in einem Masse, das mich spürbar aus der Fassung brachte. War es das wert? Wegen diesem einen Mal werde ich kaum Schaden nehmen. Aber eine Lösung für weitere Einkäufe ist das Vorgehen von heute Abend ganz bestimmt nicht.» Die Vorstellung, mehrmals pro Woche so einen Schub an Stresshormonen auszuhalten, liess mich erschaudern. Meine Bilanz lautet also: 2.30 CHF gespart, mit einem Stück Gesundheit bezahlt.

Reto und Bruno