«… und! Bist du deine 10’000 Schritte heute schon gelaufen?»

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Hand aufs Herz: Hast Du nicht auch einen Schrittzähler oder eine andere Fitness-Tracking-App auf Ihrem Smartphone installiert? Ich habe schon verschiedene solche Apps genutzt. Einen oder zwei Schrittzähler und Strava. Bei Strava handelt es sich um eine Anwendung, mit der man seine Läufe und Radfahrten über GPS aufzeichnen und auswerten kann: Wie lange war ich unterwegs? Wie viele Kilometer habe ich zurückgelegt? Wie schnell war ich im Vergleich mit anderen Sportlern, welche die gleiche Strecke zurückgelegt haben? Gerade der Vergleich mit anderen motiviert einen, an seiner sportlichen Leistungsfähigkeit zu feilen und deswegen regelmässig die Laufschuhe zu binden oder aufs Rad zu steigen. Mit Schrittzählern verhält es sich ähnlich: Wer die «magische» Schwelle von 10’000 Schritten pro Tag erreicht, kann sich auf die Schulter klopfen – «Gut gemacht! Wieder ein Beitrag zu Gesundheit, Vitalität und einem langen, glücklichen Leben.» In der Tat: Für 10’000 Schritte benötigt man bei einer Laufgeschwindigkeit von 4 bis 5 km/h und einer Schrittlänge von 70 cm gut und gern 1,5 Stunden oder mehr. Zu Grossmutters Zeiten, als den wenigsten Leuten ein Auto oder öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung standen, war ein solches Tagespensum durchaus normal, und zwar im Sommer wie im Winter. Die Menschen waren gesund und brauchten auch nicht noch zusätzlich ins Fitnessstudio zu gehen. Also kann doch auch die eifrige Nutzung von Fitness-Tracking-Apps nur gesund sein – oder gibt es einen Haken?

«Erkältet bin ich nie!» prahlt der Heilpraktiker vor seinem Freund, dem Rechtsanwalt.

«Nach dem Aufstehen nehme ich eine eiskalte Dusche, dann treibe ich eine halbe Stunde Gymnastik, trinke ein Glas lauwarmes Wasser und alle zwei Stunden wieder ein Glas. Zweimal die Woche bin ich in der Sauna und lasse mich anschliessend durchmassieren – und das Wichtigste: Jeden Abend punkt neun Uhr ins Bett! Das solltest Du auch machen!»

«Also, um ehrlich zu sein», sagt der Anwalt, «lieber bin ich dann und wann erkältet.»

Aus: Aldinger, Marco (2004). Ko(s)misches Bewusstsein.
Heuweiler: Verlag Marco Aldinger.

Von Motivation zu Stress

Kürzlich las ich von einer Studie, welche diese Frage untersuchte. Darin ging es jedoch nicht nur um die physische Gesundheit, sondern auch um das psychische Wohlergehen. Körperlich profitierten die meisten Studienteilnehmer/innen von den Fitness-Tracking-Apps. Die Ergebnisse zu den psychischen Auswirkungen solcher Anwendungsprogramme waren indes zweigeteilt. Etwa die Hälfte der Probandinnen und Probanden fühlten sich durch die Apps motiviert. Die andere Hälfte berichtete von häufigem oder anhaltendem Stress. Der am häufigsten genannte Grund: Im Laufe der Zeit entwickelte die Teilnehmer eine Art Pflichtgefühl. Schafften sie die 10’000 Schritte pro Tag, so war ihre Pflicht getan und ein Gefühl der Befriedigung stellte sich ein. Blieben die Leute hinter der Anforderung zurück, machte sich ein Gefühl des Versagens, der Unzulänglichkeit breit.

Das Bewusstsein macht den Unterschied

Ich kann das gut nachvollziehen. Die Studienergebnisse stimmen mit meiner eigenen Erfahrung überein. Anfangs hat die Nutzung von Fitness-Trackern spielerische Züge. Es macht Spass, sich mit anderen oder sich selbst zu messen. Bald aber schon kann sich das lustvolle Spiel zur Pflichtübung werden. Während das Spielerische zunächst ein bewusstes Vor- und Nachgeben zulässt, scheint sich Schwelle von 10’000 Schritten im Laufe der Zeit zu einer harten Limite. Plötzlich gibt sie vor, was zu tun ist. Das Bewusstsein für sich selbst und das, was einem wirklich guttut, geht verloren. Stress kommt auf, und dieser beeinträchtigt die Gesundheit oder verhindert zumindest eine Gesundheitsentfaltung, wie Valeursanté sie versteht.
Das alles klingt nun etwas gar negativ. Doch in dieser kritischen Überlegung liegt der Schlüssel zu einer lustvollen Nutzung von Fitness-Trackern. Diese sind an sich weder «gut» noch «schlecht», sondern einfach das Ergebnis eines öden Programmiercodes. Den echten Unterschied, so denke ich, macht das Bewusstsein. Nutze ich die App und lasse sie deshalb auch mal im Off-Modus oder lasse ich mich von ihr treiben wie ein Sklave?

Reto und Bruno