Abschied
Am 24. Oktober 2019 besuchte mich Frau E.G. und stellte mir Fragen zu Valeursanté, meiner Einstellung dazu sowie zu meiner persönlichen Motivation. Ihre Fragen waren derart, dass ich erstmalig erleben durfte, dass jemand mein Projekt in seiner vollen Tiefe verstand. Dazu gehören vor allem auch jene spirituellen Aspekte, über die wir uns bei Valeursanté bisher kaum geäussert haben. Das war eine grossartige Ausgangslage, um die Chancen und Risiken des Projektes erneut zu evaluieren.
Niemand hatte bisher die grundlegenden Thesen in Frage gestellt:
- Gesundheit ist nicht nur ein Zustand des Wohlbefindens, sondern jeder Mensch ist je nach Kriterium gesünder oder kränker. Dazu gehören Aspekte des Körpers, der Psyche, des Geistes, der Sinnerfüllung, des sozialen und ökologischen Verhaltens, des persönlichen Glaubens, bzw. der Transzendenz und damit der Einstellung zum Tod.
Jeder Mensch wird mit ihm eigenen Eigenschaften geboren, erlebt seine Jugend unterschiedlich und verfügt über einzigartige Schwächen und Talente. Aus den Erfahrungen zu lernen, Risiken mit Verstand und Bauchgefühl einzugehen, ist ein lebenslanger individueller Lernprozess. Er beinhaltet auch Herausforderungen, negativ empfundene Erfahrungen als Hürden zu erkennen, die überwunden werden wollen oder als Aufforderung, neue Wege zu begehen.
- Die vielseitigen wirtschaftlichen Interessen, der Glaube an ein unbegrenztes Wachstum, die zunehmende staatliche Betreuung und hype-orientierte Massenbewegungen führen zu einer Abwertung der Individuation, der Selbstverantwortung und damit der Freiheit.
Ohne sich mit der Selbstverwirklichung in einer Nabelschau intensiv auseinandergesetzt zu haben, glauben zu Viele zu wissen, was für alle gut sei. Damit werden Ängste verbreitet statt aufgearbeitet. Der äussere Kampf gegen Krankheiten und Missstände wird übergewichtet gegenüber dem Erkennen und dem Entfalten des Ursprünglichen und Gesunden. Das natürliche Bedürfnis nach höherem Bewusstsein wird oft mit abhängig machenden Drogen erfüllt, vergleichbar mit Tabletten zum Einschlafen oder gegen Kopfweh. Die Ursachen dieser Beschwerden erkennen und beheben, wäre heilsamer.
- Viele haben vergessen oder waren sich noch nie bewusst, mit welch enormem Einsatz unsere Ahnen unter schwierigsten Umständen die Voraussetzungen für den heutigen Wohlstand in der Schweiz, den Frieden, die Sicherheit, die politischen Rechte und eine höchst wertvolle Infrastruktur geschaffen haben. Fast ohne natürliche Ressourcen haben diese Menschen in 170 Jahren mit Eigenverantwortung, Fleiss, Zuverlässigkeit, Innovation, Gemeinsinn und Versöhnlichkeit einen weltweit einmaligen Wohlstand hinterlassen, wie er allen Gesellschaften zugänglich wäre.
Die individuelle Selbsterkenntnis gesellschaftlich summiert schafft die Voraussetzungen, diese Qualitäten zu verfeinern, die vielen aktuellen Schwächen zu erkennen und sie zu heilen. Obwohl unsere Generation Nutzniesser dieses Erbes ist, stehen oft Forderungen, Unzufriedenheit, Neid usw. mehr im Vordergrund als Dankbarkeit für das Geschenkte.
- Aus östlicher Sicht betrachtet, leidet unsere Kultur wohl am meisten an Einseitigkeit. Symbolisch betrachtet, heisst dies: Es fehlt uns die Ausgewogenheit des Judensterns oder des Dào (Yin/Yang). Materielles, Digitales, Logisches, Gesetze, politische ‚Korrektheit‘ sind heute Trumpf und verführen viele Menschen dazu, komplementäre Werte zu unterschätzen. So liegen beispielsweise der Plazeboeffekt, das Bauchgefühl, Ahnungen, Träume, Synchronizitäten, konsumfreier Genuss, Lebenslust, Empathie und Wohlgefühl auf anderen Ebenen. – Aus ganzheitlicher Sicht ist nicht erklärbar, dass Legislatoren, Ärzte oder Lehrer (Eltern) sich ärgern, beziehungsweise ängstigen (ausser bei akuter Gefahr), an Zeitnot leiden, gestresst sind oder gar einen Burnout erleiden. Ohne ihre Probleme zu lösen, scheuen sich nicht, andere zu belehren oder ihnen gar Vorschriften zu machen.
- Wege zur Selbsterkenntnis und zum Erarbeiten des selbstreflektieren Glaubens werden nur von Wenigen beschritten. Integrität (sie ist mehr als Ehrlichkeit, weil sie mit dem Selbstbild harmoniert), Gewaltlosigkeit, Beitragen (statt ausnützen), Mitgefühl, Versöhnlichkeit usw. bleiben damit häufig auf der Strecke. Wir laufen dann Gefahr, Unangenehmes zu verschweigen und die Bedeutung der Bewusstseinsentfaltung zu verkennen. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod.
Es ist nicht auszuschliessen, dass gerade deshalb die Lebensverlängerung und die ungehemmte Bevölkerungsexplosion weit mehr Probleme schaffen (Gewalt, Wassermangel, Ressourcenverzehr, Umweltvergiftung etc.) als bewusster lebende Menschen lösen können.
Viele Beobachtungen und eigene Erfahrungen, führten vor zwei Jahren zur Überzeugung, das Projekt Valeursanté zu starten. Verwöhnte Wohlstandsmenschen mit guter Bildung und oft weltweiter Reiseerfahrung müssten ein Interesse bekunden, die individuell höchstmöglich erreichbare Lebensqualität zu erreichen, um damit nicht nur sich selbst, sondern auch die Gesellschaft zu heilen. Die von uns zitierten Studien weisen auch darauf hin, dass eine derart agierende Gesellschaft, die Krankenkosten massiv (> 50%) vermindern könnte. Auch ist anzunehmen, dass die Anzahl Selbstmorde junger Mensch abnähmen.
Wenn die Schweiz mit Entwicklungshilfe die Welt materiell zu heilen versucht, so gleicht dies einem Tropfen auf einem heissen Stein, oft sogar mit negativen Folgen. Wir waren bei Valeursanté überzeugt, dass die Voraussetzungen in diesem Lande mit der Bottom-up-Demokratie derzeit die bestmöglichen wären, um uns selbst seelisch zu heilen und dem Glauben entgegenzutreten, dass der Materialismus allein die Zukunft der Menschen gesunde. Eine wohlhabende, glückliche und gesunde Gesellschaft wäre vielleicht eine Anregung für andere Länder und hätte eine bessere Wirkung als Geld.
Mit Valeursanté wollten wir nicht Guru spielen, keine Therapien oder Zusatzstoffe, keine Diäten oder Verhaltensweise vorgeben und schon gar nicht einen finanziellen Gewinn anstreben. Jeder Mensch soll in der ihm sinnvoll erscheinenden Form an sich arbeiten, um heute besser zu sein als gestern. Wir empfahlen lediglich, nachhaltig und in Harmonie mit der Natur und ihren Ressourcen zu leben, die Grenzen anderer zu respektieren und die verschiedenen Aspekte der Gesundheit (Vertrauen, Integrität, Gewaltlosigkeit, Versöhnlichkeit, Bescheidenheit, Beitragen [statt ausnützen]), als individuellen Massstab zu verwenden. Mit einem Wettbewerb und seinen Preisen haben wir versucht, Menschen anzuregen, sich selbst mit der Thematik auseinanderzusetzen und neue Ideen zu entwickeln. Wir wollten auch eine Bewegung gründen, deren Mitglieder keine pekuniären Beiträge leisten, aber sich von einer Vision inspirieren lassen und damit andere anregen.
Zu unserem Bedauern haben all diese Initiativen nicht gezündet. Das Gespräch mit Frau E.G. hat mich überzeugt – ohne dass sie versucht hat, mich zu beeinflussen –, dass trotz allen bestechenden Argumenten die Zeit nicht reif ist für ein derartiges Projekt, oder dass ich ungeeignet bin zu dessen Verwirklichung.
Viele Erfahrungen im Verlaufe der letzten zwei Jahre haben aufgezeigt, dass selbst innerhalb des Projektes nicht immer das vorgelebt wird, wofür wir uns einsetzten. Anfänglich war ich überzeugt, dass dies überwindendbare Herausforderungen seien. Das Auftauchen vieler zusätzlicher Hindernisse liess mich erkennen, dass es unter Berücksichtigung meines Alters nicht möglich ist, in der beabsichtigten Weise einen Samen zu pflanzen, der dann im Laufe der Jahre von anderen zur Blüte gebracht wird. Ein wichtiger Grund dafür ist die Beobachtung, dass Selbstläufer, Menschen die sich bereits auf dem Wege ihrer Individuation befinden, wenig Lust verspüren, sich mit anderen organisatorisch zu verbinden, eine Sicht, die vor allem von meiner Tochter Gabrielle, einer erfolgreichen psychologischen Heilpraktikerin, vertreten wird.
Somit habe ich mich am 5. Oktober entschlossen, das Projekt Valeursanté abzuschliessen und danke allen, die in konstruktiver Weise dazu beigetragen haben. – Interessant ist dabei, dass ich am 9. Oktober in Sils Maria auf einen Text von Friedrich Nietzsche gestossen bin, der die Grundlage von Valeursanté bestätigt:
„Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, ausser Dir; wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn.“ (Zitiert nach Nietzsche, Friedrich: Die Kunst der Gesundheit, herausgegeben von Mirella Carbone und Joachim Jung; Verlag Karl Alber; 3. Auflage, 2017).
Bruno Riek